Ich kenne wenige Konzerthallen, in denen man den Künstlern derart nahe kommt wie in den den Stuttgarter Wagenhallen. Die Künstlergarderobe befindet sich neben der Herrentoilette und die Künstler passieren den Vor(raucher)raum oder gar die Konzerthalle auf ihrem Weg zur Bühne. Toll.
Die Vorgruppe Coves aus England legte mit einem betont kühlen Auftritt der Sängerin Beck Wood keinen großen Wert auf sympathische Wirkung. Aber musikalisch wusste die Band als gute Einstimmung auf St. Vincent weitgehend zu überzeugen. Mit “Cast the shadow” hatte die Band sogar mindestens einen mitreißenden Song zu bieten. Was will man mehr von einer Vorgruppe.
Kurz nach 21 Uhr betrat dann das Gesamtkunstwerk St Vincent die Bühne. Schon mit der Tanzeinlage zu Beginn von “Rattlesnake” war klar, dass Annie Clark sich nur als bloße Musikerin versteht. Sie ist Sängerin, Gitarrengöttin, Tänzerin… irgendwie verbindlich sympathisch und irgendwie kühl und unendlich distanziert.
Einige ihrer Tanzschritte wurden entweder stark von ihrer Zusammenarbeit mit David Byrne beeinflusst oder sie und er haben gemeinsame Vorfahren. St. Vincent spielte vor allem Songs des aktuellen Albums und ältere Titel welche bereits den Weg in Richtung Gitarren- und / oder Rhythmusorientierung andeuteten.
Annie Clark ist vielseitig und daher kaum einzuordnen. In den 60er Jahren hätte sie in der Progrock-Liga mitspielen können, in den 70ern wäre sie eine Bereicherung für die Punkbewegung gewesen. In den 80er Jahren hätte sie sich mit Bon Jovi & Co. Duelle geliefert, während sie in den 90er Jahren vermutlich nach Seattle gezogen wäre. Im neuen Jahrtausend ist sie jedoch ähnlich “zerrissen” wie die Musiklandschaft an sich: St. Vincent kann alles und fordert damit ihre Hörer. Sie ist eine Künstlerin für die große Bühne aber leider fehlen ihr zumindest in Europa noch die entsprechenden Zuschauermassen. Vielleicht ist sie ihrer Zeit einfach nur einen Tick voraus.
Nicht zu unterschätzen waren die Beiträge ihrer musikalischen Unterstützung. Der Drummer lief kopfhörergesteuert wie ein präzises Uhrwerk, die Backgroundsängerin / Gitarristin / Keyboarderin erwies sich zudem als perfekte Partnerin für die immer wieder überraschenden weil unerwarteten Choreographien.
Das war gestern kein Konzert, St. Vincent hatte Sex mit der Gitarre und das Publikum war dabei.
Morgen tritt St. Vincent in Frankfurt auf.
Setlist:
- Rattlesnake
- Digital witness
- Cruel
- Marrow
- Every tear disappears
- Chloe in the afternoon
- I prefer your love
- Actor out of work
- Regret
- Sparrow (?)
- Surgeon
- Cheerleader
- Prince Johnny
- Birth in reverse
- Huey Newton
- Bring me your loves
Zugabe:
- Your lips are red